Frau mit VR-Headset, umgeben von Digitalen linien
#Business Transformation

Industrial Metaverse: Was ist dran an dem Hype?

Globale Trends
7 Min.

Obwohl es im Verbraucherumfeld noch keine konkreten Anwendungen gibt, nimmt das Metaverse in der Industrie immer mehr Fahrt auf. Es beruht auf einer Konvergenz von Industrie-4.0-Technologien wie digitalen Zwillingen, komplexen Prozesssimulationen, intelligenten Fabriksystemen und künstlicher Intelligenz. Dadurch bietet das industrielle Metaverse ein enormes Potenzial zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität von Unternehmen.

Das Metaverse – die Spiegelung realer Aktivitäten in immersiven digitalen 
3-D-Räumen – ist eine der am meisten überschätzten (und vielleicht am wenigsten verstandenen) technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte.

Der erste Hype erreichte seinen Höhepunkt um die Jahreswende 2021/22, als Facebook-Eigentümer Meta seine Vision des Metaversums als „nächste Evolutionsstufe der sozialen Vernetzung und Nachfolger des mobilen Internets“ präsentierte und Tech-Analystinnen und -Analysten wie Gartner die kühne Prognose aufstellten, dass bis 2026 ein Viertel aller Menschen „mindestens eine Stunde pro Tag in verschiedenen Metaversen für Arbeit, Einkauf, Bildung, soziale Kontakte und/oder Unterhaltung“ verbringen würde.1

Bis heute hat sich diese ambitionierte Vision eher als virtuelles denn als reales Phänomen erwiesen – Meta selbst räumt ein, dass es noch zehn Jahre oder länger dauern könnte, bis ihre Version des Metaversums Früchte trägt. Der Hype hat sich abgekühlt, aber die zahlreichen Gerüchte vom „Ende des Metaversums“ erscheinen maßlos übertrieben und verfrüht.

Fakt ist: Das Proto-Metaverse ist bereits da. Das sagen zumindest informierte Beobachterinnen und Beobachter wie Magdalena Dellinger, Head of Technology and Innovation im Corporate Technology Office von G+D. Nach dem anfänglichen Hype werden viele zentrale Elemente des Metaversums nun nach und nach in neuen und angepassten Geschäftsmodellen umgesetzt.

Einige der wichtigsten Eigenschaften des Metaversums finden sich in zunehmend immersiven Virtual-Reality-Games und Augmented-Reality-Apps wieder. Aber auch in der Industrie, in erweiterten digitalen Zwillingsumgebungen, in der Prozesssimulation und in der Nutzung von Augmented Reality zur Verbesserung von Wartungsaufgaben findet es vermehrt Anwendung. Im Gesundheitswesen dient das Metaversum als Grundlage für die „erweiterte Realität“, die hochkomplexe Operationen unterstützt.2 Und es ist in Form von virtuellen Erlebnissen präsent, die praktische Schulungen, immersive Meetings und Brainstorming-Sitzungen ermöglichen.

Das Industrial Metaverse wird immer mehr zum Mainstream, da viele Unternehmen derzeit immer anspruchsvollere Anwendungsfälle erforschen oder implementieren. In der „2023 Industrial Metaverse Study“ von Deloitte gaben 92 Prozent der befragten Führungskräfte an, dass ihr Unternehmen mit mindestens einem Anwendungsfall, der das Metaverse nutzt, experimentiert oder diesen bereits eingeführt hat. Im Durchschnitt werden derzeit mehr als sechs Anwendungsfälle realisiert. Laut den Beratern von Deloitte nutzen Hersteller die Dynamik ihrer Smart Factories als Sprungbrett in das industrielle Metaverse.3

Diese Einschätzung teilen auch die Berater von Arthur D. Little. Sie sehen das industrielle Metaversum als eine Weiterentwicklung einzelner Technologien, die bereits heute existieren. Diese werden aber schrittweise zu einem durchgängigen, realitätsnahen industriellen System erweitert, das auch externe Elemente außerhalb des Unternehmens und der Umwelt, in der es agiert, einbezieht. Das mag der Grund dafür sein, dass es heute noch keine Entität wie „das Industrial Metaversum“ gibt. Stattdessen existieren mehrere Plattformen, auf denen sich schnell entwickelnde Industrie-4.0-Technologien laufen, die derzeit noch nicht interoperabel sind, aber einen wichtigen Beitrag in diese Richtung leisten.4

Mit der zunehmenden Akzeptanz in der Industrie ergeben sich für Führungskräfte einige wichtige Fragen: Wo bietet die frühzeitige Nutzung des Industrial Metaverse das größte Potenzial für Produktivitäts- und Wettbewerbsvorteile? Was sind die größten Herausforderungen für Unternehmen beim Eintritt in diese neue Dimension des industriellen Metaverse – angefangen bei Identitätsfragen über Interoperabilität bis hin zu Zahlungsprozessen? Und wie wird sich dieses Konzept unter dem unvermeidlichen Einfluss von KI weiterentwickeln?

Metaverse Session zwischen Kollegen

Beginn einer virtuellen industriellen Revolution

Angesichts dieser rasanten Entwicklungen lohnt es sich, zu definieren, wozu solche virtuellen Umgebungen dienen, welchen Umfang sie haben und welche Möglichkeiten sie für Unternehmen und Einzelpersonen bieten – so wie G+D es kürzlich getan hat. (Siehe Kasten: „Definition: Was ist das Metaverse?“).

Definitionen dieser Art sind allerdings nicht in Stein gemeißelt und werden sich mit der Entwicklung des Metaverse aller Wahrscheinlichkeit nach ändern. Industrieunternehmen entdecken jedoch zweifellos Bereiche, in denen die Technologie einen Mehrwert für ihre Betriebsabläufe schaffen kann, sei es in der Produktion, der Lieferkette, der Forschung und Entwicklung oder der Kundenbindung. Einige besonders interessante Themen sind:

Prozessoptimierung
Unternehmen können kostspielige Fehler vermeiden, ihre Prozessabläufe optimieren und einen höheren Durchsatz erzielen, indem sie Simulationsumgebungen für Prozesse schaffen, in denen sie neue Abläufe testen und verfeinern können. Diese Möglichkeit erwies sich in der Deloitte-Umfrage als der beliebteste Anwendungsfall, wobei die Hälfte der Unternehmen angab, bereits eine Prozesssimulation implementiert zu haben oder damit zu experimentieren. Die Möglichkeit, eine simulierte Umgebung zu erschaffen, die „begehbar“ ist, wird von vielen Unternehmen als hilfreich bewertet. Das kann eine Firma sein, die den Passagierfluss in einem neuen internationalen Flughafen plant, oder ein Hersteller, der seine Produktionslinie für ein neues Produkt umrüsten möchte.

Kostensenkung/Effizienzsteigerung
Das industrielle Metaverse kann in vielen Bereichen die Betriebskosten senken. Bei der Herstellung von Prototypen in einem frühen Entwicklungsstadium, beispielsweise eines Flugzeugtriebwerks, lässt sich ein virtueller Zwilling des physischen Entwurfs erproben, testen und verfeinern, bis das Design optimal ist. Dies führt zu niedrigeren Entwicklungskosten und einem wahrscheinlich erfolgreicheren Produkt. Ein großes deutsches Automobilunternehmen hat beispielsweise berechnet, dass der Einsatz von Metaverse-Plattformen bereits zu einem um 30 Prozent effizienteren Planungsprozess geführt hat.5

Kundenbindung durch mehr Interaktion
Immersive Kundenerlebnisse und virtuelle Aftersales-Services – von der virtuellen Besichtigung eines Urlaubsorts bis zur Probefahrt mit einem personalisierten Auto – können sich im Verkaufsgespräch als äußerst wertvoll erweisen.

Qualifikationslücken schließen
In Bereichen wie der komplexen Montage und Wartung können neue Teammitglieder mithilfe von immersiven Schulungen und Augmented Reality in einer sicheren Umgebung schneller die erforderlichen Fähigkeiten erwerben. Mehr als die Hälfte der in der Deloitte-Studie befragten Unternehmen gaben an, bereits metaverse Umgebungen für Schulungen zu nutzen oder damit zu experimentieren.

“Heute fehlt den Metaverse-Nutzerinnen und -Nutzern der ersten Stunde die Kontrolle über ihre digitalen Identitäten, was sie daran hindert, die Nutzung von Fall zu Fall zu regeln. Dies beeinträchtigt nicht nur den Datenschutz, sondern auch das Vertrauen der Nutzerinnen und Nutzer in und um das Metaverse.“
Franziska Muschik
Senior Product Manager Innovations & Business Development, Veridos

Die größten Herausforderungen des Metaverse

Mit der Nutzung paralleler digitaler Welten sind zahlreiche Herausforderungen verbunden, die miteinander verknüpft und von großer Tragweite sind. Mit der steigenden Anzahl und Komplexität der Anwendungsfälle nehmen diese Herausforderungen zu. Dabei geht es unter anderem um:

1. Identitätssicherung
Um sicher im Metaverse agieren zu können, müssen diese Umgebungen vor unberechtigtem Zugriff und Cyberangriffen geschützt werden. Darüber hinaus müssen geltende Regeln, Gesetze und Standards wie Beschränkungen des Alters und des Währungsumtauschs eingehalten werden. Sichere Identitäten spielen bei der Umsetzung dieser Anforderungen eine entscheidende Rolle.

Dem Weltwirtschaftsforum (WEF) zufolge ist die Identität für die Gestaltung immersiver, menschenzentrierter Erfahrungen von entscheidender Bedeutung.6 Die Fähigkeit, die digitale Identität und Privatsphäre zu verifizieren und zu schützen, wird in der Tat ausschlaggebend sein, um gefälschte Identitäten/Identitätswechsel, böswillige Aktivitäten sowie viele andere Sicherheitsverletzungen zu verhindern, die virtuelle Räume gefährden könnten.

Vor allem müssen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Vertrauenswürdigkeit nachweisen und aufrechterhalten. Nur dann erhalten sie Zugang zu Online-Räumen, können sich dort einbringen und Transaktionen durchführen. Aus diesem Grund ist Self-Sovereign Identity (SSI) ein besonders nützlicher Ansatz. Bei SSI müssen Benutzerinnen und Benutzer nur den spezifischen Teil ihrer Identitätsdaten preisgeben, der für den unmittelbaren Zweck erforderlich ist – beispielsweise nur ihr Geburtsdatum, wenn sie ein altersbeschränktes Metaverse betreten.

Eine solche „MetaSSI“ wäre laut G+D eine Metaverse-kompatible Lösung (in Übereinstimmung mit dem dezentralen Konzept des Web3-Universums), die sich an Personen- und/oder Asset-IDs richtet – und so dem Einzelnen die Kontrolle über seine digitale Identität gibt; gleichzeitig würde sie die Privatsphäre und das Vertrauen in Metaverse-Umgebungen stärken.

„Heute fehlt den Metaverse-Nutzerinnen und Nutzern der ersten Stunde die Kontrolle über ihre digitalen Identitäten, was sie daran hindert, die Nutzung von Fall zu Fall zu regeln. Dies beeinträchtigt nicht nur den Datenschutz, sondern auch das Vertrauen der Nutzerinnen und Nutzer in und um das Metaverse“, sagt Franziska Muschik von Veridos.

Mann mit VR Brille betrachtet ein holografisches Modell

2. Interoperabilität virtueller Welten
Um ihren vollen Nutzen zu entfalten, dürfen industrielle Metaverse-Umgebungen letztlich nicht abgeschottet und isoliert voneinander existieren. Unternehmen müssen Wege finden, um sichere Gateway-Mechanismen zwischen der realen und der virtuellen Welt sowie zwischen verschiedenen Metaverse-Plattformen zu schaffen.

G+D zufolge gibt es derzeit keine sichere Möglichkeit, Informationen zwischen verschiedenen Benutzertypen (Menschen, Maschinen, APIs und andere Metaversen) auszutauschen. Für viele Branchen, wie beispielsweise die Automobilindustrie, wird die Schaffung eines „Metalink“ von entscheidender Bedeutung sein, da die Komplexität der Arbeitsabläufe (ob virtuell oder real) eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten erfordert. Ein Unternehmen, das in seinem Metaverse an der Radmontage für ein neues Automodell arbeitet, sollte sicheren Zugang zu ausgewählten Segmenten der Metaverse-Plattformen anderer Partnerunternehmen haben, die an voneinander abhängigen Bereichen des Gesamtentwurfs arbeiten.

Die Interoperabilität im Metaversum muss „nahtlose Erfahrungen bieten, die es den Nutzerinnen und Nutzern ermöglichen, sich mit relevanten Daten, digitalen Ressourcen und Identitäten durch die und zwischen der physischen und der digitalen Welt zu bewegen“, so das WEF, wobei verschiedene Metaversum-Nutzerinnen und -Nutzer als Verwalter ihrer eigenen Daten und digitalen Identitäten fungieren.7

“Was jetzt gebraucht wird, sind der Wille und die Expertise, eine sichere Zahlungsinfrastruktur zu entwickeln, die Unternehmen und Finanzdienstleistungsorganisationen benötigen, damit Transaktionen im Metaversum vertrauenswürdig und sicher durchgeführt werden können.“
Magdalena Dellinger
Technology & Innovation Manager, Corporate Technology Office, G+D

3. Aufbau des „Moneyverse“
In diesem digitalen Grenzbereich, in dem viele Unternehmen und Finanzinstitutionen aktiv werden wollen, ist es die Aufgabe der Metaversum-Plattformen, eine Basis für sichere Zahlungen zu schaffen. „Was jetzt gebraucht wird, sind der Wille und die Expertise, eine sichere Zahlungsinfrastruktur zu entwickeln, die Unternehmen und Finanzdienstleistungsorganisationen benötigen, damit Transaktionen im Metaversum vertrauenswürdig und sicher durchgeführt werden können“, so Dellinger. „Die Aufgabe eines solchen ,Moneyverse‘ besteht nicht nur darin, das Vertrauen der Nutzerinnen und Nutzer zu stärken, sondern auch darin, ein robustes, sicheres und effizientes Finanzumfeld in dieser neuen Realität zu schaffen.“

Ein Moneyverse würde sichere Freigabe-, Validierungs- und Austauschmechanismen umfassen, um sicherzustellen, dass bei Transaktionen in der virtuellen Welt letztlich „echtes“ Geld ausgetauscht wird. Begleitet würde dies von einer Aufsicht, die Bereiche wie Know-your-Customer (KYC) und Anti-Geldwäsche-Rahmenbedingungen abdeckt. Ziel ist es, ein sicheres wirtschaftliches Umfeld im und um das Metaversum zu schaffen.

Mann mit VR-Headset interagiert mit einem holografischen Interface.

KI trifft Metaverse

Zu den nächsten großen Etappen auf dem Weg zum industriellen Metaverse gehören:

  • die Ausweitung digitaler Simulationen über einzelne physische Assets hinaus auf eine Vielzahl vernetzter Assets
  • die Integration interner Prozesse und Funktionen in verschiedene Metaversen
  • die Kompetenzerweiterung auf vor- und nachgelagerte Geschäftsaktivitäten, um ein komplettes industrielles System einzubinden.4 

Durch die zunehmende Bedeutung von KI werden diese Entwicklungen unweigerlich beschleunigt. Oder, wie es die Leiterin der Global Business Group von Meta, Nicole Mendelsohn, auf dem WEF 2024 formulierte: „Kein Metaverse ohne KI, und ohne KI kein Metaverse. Diese zwei ergänzen sich perfekt – und bilden ein glückliches Paar.“8

Viele Unternehmen stehen nun vor der Aufgabe, eine solide Erfolgsstrategie für das Zeitalter des Industrial Metaverse zu entwickeln. Die Beraterinnen und Berater von Arthur D. Little schätzen, dass die potenziellen Produktivitätssteigerungen „im zweistelligen Prozentbereich“ liegen könnten – genug, um das Wettbewerbsumfeld in vielen Branchen neu zu definieren.

Das Metaverse ist eine Kombination dezentraler, in Echtzeit vernetzter virtueller Umgebungen, die die reale Welt ergänzen. Es bietet eine Plattform für digitale Zwillinge, Unterhaltung und soziale Kontakte, die Verwaltung digitaler Vermögenswerte und sichere Transaktionen. Das Metaverse ermöglicht es Organisationen und Einzelpersonen, über ihre physische Welt hinauszugehen und Innovationen voranzutreiben.

(G+D)

Key Takeaways

  • Ganz im Gegensatz zur Metaverse-Euphorie der Konsumentinnen und Konsumenten ist das Industrial Metaverse in vollem Gang und entwickelt sich ständig weiter.
  • Die Anwendungsbereiche des Industrial Metaverse werden gerade erst definiert.
  • Zu den größten Herausforderungen zählen: die Identität im Metaverse, das sichere Bezahlen und die Zusammenarbeit innerhalb und zwischen mehreren Metaversen.
  • Die wirtschaftlichen Vorteile einer erfolgreichen Nutzung des Metaverse reichen von geringeren Betriebs- und Produktentwicklungskosten bis zur Behebung des Fachkräftemangels.
  1. 25% of People Will Spend At Least One Hour Per Day in the Metaverse by 2026, Gartner (2022)

  2. Johns Hopkins Performs Its First Augmented Reality Surgeries in Patients, John Hopkins Medicine (2021)

  3. Exploring the industrial metaverse, Deloitte (2023) 

  4. The Industrial Metaverse, Arthur D. Little (2023)

  5. BMW Sees its Future in the Metaverse, Innovation & Tech Today (2022)

  6. Metaverse Identity: Defining the Self in a Blended Reality, World Economic Forum, 2024

  7. Interoperability in the Metaverse, World Economic Forum, 2023 (PDF)

  8. Whatever happened to the Metaverse?, diginomica (2024)

Veröffentlicht: 24.10.2024

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